Themenabend: Die Menschenwürde als Grundwert der freiheitlich-demokratischen Ordnung |
09.06.07 |
Freitag, 08.06.2007, 18.00 - 21.30 Uhr, Universität Lettlands, Raiņa bulvāris 19, Konferenzraum im Untergeschoss (Eingang durch die Mensa) |
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"Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." Mit dieser Formulierung am Anfang des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland begann 1949 eine neue Entwicklungsphase der Verfassungsstaatlichkeit in Europa. Nicht Staat und Nation sind das Wichtigste in der freiheitlich-demokratischen Verfassungsordnung, sondern der Mensch. Denn der Staat und seine Institutionen sind wegen des Menschen da und nicht umgekehrt. Den philosophischen Hintergrund für dieses Konzept bildet vor allem die von Immanuel Kant entwickelte Lehre von der Menschenwürde als der Freiheit und Gleichheit des autonomen (selbstbestimmten) Menschen, bei der der Mensch "Zweck an sich selbst" ist und niemals Mittel zum Zweck sein darf.
Die Menschenwürdegarantie ist in der deutschen Verfassung politisch-philosophisches Bekenntnis und unmittelbar geltendes Recht zugleich. Sie bildet das oberste Konstitutionsprinzip. Das Bundesverfassungsgericht hat das Konzept in zahlreichen Entscheidungen konkretisiert. Viele europäische Staaten haben sich inspirieren lassen und ebenfalls Menschenwürdegarantien in Form von Verfassungsgrundsätzen oder Grundrechten in ihren Verfassungen verankert (siehe Übersicht). Dies gilt auch für Lettland (siehe Art. 95 der Verfassung). Den vorläufigen Abschluss dieser Entwicklung bildet der Vertrag über eine Verfassung für Europa, dessen Menschenwürdeklausel fast wörtlich der des Grundgesetzes entspricht.
Der Themenabend informiert zunächst über die ideengeschichtlichen und philosophischen Grundlagen. Daran anknüpfend behandelt er am Beispiel des deutschen Grundgesetzes die Bedeutung der Menschenwürde als Grundlage des freiheitlich-demokratischen Verfassungsstaates. Anschließend wendet er sich der schwierigen Anwendung der Garantie der Menschenwürde als geltendes Recht in der juristischen Praxis zu. Dabei kommen auch aktuell diskutierte Problemstellungen wie die Frage nach der Abwägbarkeit der Menschenwürde zur Sprache. Der Themenabend befasst sich auch exemplarisch mit der Menschenwürde im französischen Recht und schließlich mit der Verankerung der Menschenwürde als gemeinsamer Grundwert im Recht der Europäischen Union.
Der Themenabend bietet ausgiebig Raum für Diskussionen mit den Referenten und unter den Zuhörern. In den Pausen werden Getränke und Snacks gereicht.
Alle Interessierten sind herzlich eingeladen!
Einführung
- Prof. Dr. Thomas Schmitz, Universität
Lettlands, Baltisch-Deutsches Hochschulkontor -
Die Menschenwürde
als Grundlage des freiheitlich-demokratischen Verfassungsstaates
- Prof. Dr. Peter Unruh, Universität
Göttingen / Nordelbisches Kirchenamt, Kiel -
Zur
Anwendung der Garantie der Menschenwürde als Rechtssatz
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Prof. Dr. Karl-Eberhard Hain, Universität
Mainz -
Die Menschenwürde
im französischen Verfassungsrecht
- Rodolphe Laffranque, Universität Tartu -
Die Menschenwürde
als verbindlicher Grundwert in der Europäischen Union
- Prof. Dr. Thomas Schmitz -
Diskussion: Die Menschenwürde als Grundwert - aktuelle Problemstellungen und Perspektiven
Materialien zum Download (als PDF-Dateien)
Übersicht über Rechtsquellen zur Menschenwürde im Verfassungsrecht europäischer Staaten, im Recht der Europäischen Union und im Völkerrecht (deutsch/englisch) | |
Beitrag von Karl-Eberhard Hain (Zusammenfassung [deutsch/lettisch]) | |
Beitrag von Peter Unruh (Zusammenfassung [deutsch/lettisch]) | |
Beitrag von Rodolphe Laffranque (Zusammenfassung [mit Entscheidung des Conseil constitutionnel Nr. 94-343/344 DC in deutsch]) | |
Beitrag von Thomas Schmitz (Zusammenfassung) |
Links zum Thema der Veranstaltung
1. Zu den philosophischen Grundlagen der Lehre von der Menschenwürde
Zur Menschenwürde bei Immanuel Kant: wichtige Zitate (Auswahl bei phil-o-sophie.de); Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (erschienen in Riga 1785); Bilder von Kant (Bild 1, Bild 2, Bild 3) |
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Aus der aktuellen Diskussion: Paul Tiedemann, Der Begriff der Menschenwürde. Eine Anfrage an die Sozialphilosophie (e-Journal Philosophie der Psychologie 2006); Damir Smiljanic, Rezension zur Streitschrift von Bernhard H. F. Taureck, Die Menschenwürde im Zeitalter ihrer Abschaffung. Eine Streitschrift (2006) |
2. Zur Garantie der Menschenwürde im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland
Allgemein: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Garantie der Menschenwürde (Essay, 2006); Hasso Hofmann, Die versprochene Menschenwürde (HFR 8/1996); Paul Tiedemann, Menschenwürde als Verfassungsbegriff (HFR 7/1997, Entgegnung zu Hasso Hofmann) |
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Menschenwürde und Abwägung: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Menschenwürde war unantastbar (Kritik in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 03.09.2003 an der relativierenden Position Herdegens in dessen Neukommentierung von Art. 1 des Grundgesetzes im Grundgesetz-Kommentar Maunz/Dürig); Ernst-Wolfgang Böckenförde, Bleibt die Menschenwürde unantastbar? (ebenfalls Kritik an der Position Herdegens, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 10/2004); Johannes Reiter, Menschenwürde als Maßstab (Aus Politik und Zeitgeschichte B23-24/2004, mit ideengeschichtlicher Einführung) |
Wichtige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts: Aktuell: Menschenwürdegarantie erlaubt keine Abschussermächtigung für von Terroristen entführte Passagierflugzeuge (Urteil vom 15.02.2006, 1 BvR 357/05); Menschenwürde und Abhören von Ferngesprächen (BVerfGE 30, 1) mit der sogenannten Objektformel, nach welcher der Mensch nicht "zum bloßen Objekt staatlichen Handelns" gemacht werden darf (siehe S. 40); Menschenwürde und ebenslange Freiheitsstrafe (BVerfGE 45, 187); Menschenwürde des ungeborenen Lebens (BVerfGE 88, 203, zweites Abtreibungsurteil); Menschenwürde und Reform des Asylrechts (BVerfGE 94, 49, 103; siehe dazu auch Besprechung); Menschenwürde und rechtliche Einordnung eines ungewollten Kindes als Schaden (BVerfGE 96, 375; siehe dazu auch Besprechung) |
3. Zur Menschenwürde im französischen Verfassungsrecht
Conseil constitutionnel (Verfassungsrat): Entscheidung Nr. 94-343/344 DC vom 27.07.1994 zur Biomedizin (auch in deutsch); Entscheidung Nr. 94-359 DC vom 19.01.1995; Entscheidung Nr. Nr. 2001-446 vom 27.06.2001 zum Schwangerschaftsabbruch (auch in deutsch): |
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Conseil d'Etat (Verwaltungsrat): Entscheidung vom 27.10.1995, Commune de Morsang-sur-Orge (Besprechung) |
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Zur Menschenwürde im Verfassungsrecht anderer Staaten: siehe die folgende Rechtsquellenübersicht (aus der Veranstaltung) |
4. Zur Garantie der Menschenwürde im Recht der Europäischen Union
Im geltenden Recht: Menschenwürde als Grundrecht (EuGH, Rechtssache C-377/98, Biopatent-Richtlinie); Menschenwürde als Grund für die Einschränkung der wirtschaftlichen Grundfreiheiten (EuGH, Rechtssache C-36/02, Omega) |
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In der Charta der Grundrechte der Europäischen Union in der geltenden Fassung: siehe Präambel und Art. 1 |
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Im Vertrag über eine Verfassung für Europa: Art. I-2 (auch in lettisch), Präambel Teil II und Art. II-61 ff. (auch in lettisch) |
5. Zu aktuellen Problemstellungen im Zusammenhang mit der Menschenwürde
Menschenwürde und absolutes Verbot der Folter: Heiner Bielefeldt, Menschenwürde und Folterverbot. Eine Auseinandersetzung mit den jüngsten Vorstößen zur Aufweichung des Folterverbots (2007) (mit umfangreichen Nachweisen zur Diskussion auf S. 5 f.);Heiner Bielefeldt, Zur Unvereinbarkeit von Folter und Rechtsstaat (Aus Politik und Zeitgeschichte 36/2006); Jürgen Kühling, Folterverbot und Rechtsstaat in Deutschland (2006); Amnesty International Deutschland, Aufruf "Nein zur Folter. Ja zum Rechtsstaat" (2005); Winfried Brugger, Einschränkung des absoluten Folterverbotes bei Rettungsfolter?, Aus Politik und Zeitgeschichte 36/2006 (eine Minderheitsmeinung, die Folter in Ausnahmefällen zulassen will); Literaturhinweis auf einen Tagungsband: Wolfgang Lenzen (Herausgeber), Ist Folter erlaubt? Juristische und philosophische Aspekte (2006) |
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Menschenwürde und Biomedizin: Siehe die folgenden Rechtstexte: Europäisches Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin von 1997 (von Lettland unterzeichnet aber noch nicht ratifiziert) mit Zusatzprotokoll von 1998; Art. II-63 Absatz 2 des Vertrages über eine Verfassung für Europa (auch in lettisch); aus dem deutschen Recht: das Stammzellgesetz von 2002. Siehe aus der umfangreichen Diskussion insbesondere Klaus Gärditz, Menschenwürde, Biomedizin und europäischer Ordre Public (2006); Daniel Junk, Embryonale Forschung aus der Perspektive des kantischen Begriffs der Menschenwürde, juristische Dissertation, Tübingen 2006; Wolf Krötke, Die ethischen Herausforderungen durch die Genetik. Überlegungen im Anschluss an Immanuel Kant; Sigrid Graumann/Andreas Poltermann, Klonen: ein Schlüssel zur Heilung oder eine Verletzung der Menschenwürde? (Aus Politik und Zeitgeschichte B 23-24/2004); Hans-Jochen Vogel, Darf der Mensch Embryonen zu Heilungszwecken und/oder Forschungszwecken nutzen? (Konferenzbeitrag); Friedhelm Hufen, Zur verfassungsrechtlichen Beurteilung des Verbots der Forschung an menschlichen Embryonen und aus Embryonen gewonnenen Stammzellen; Friedhelm Hufen, Pränatal- und Präimplantionsdiagnostik: Das Dilemma der vorgeburtlichen Auslese (Vortrag 2002); Roberto Andorno, Biomedicine and international human rights law: in search of a global consensus (Bericht über den Stand der Diskussion, 2002), Zentrum für Europäische Integrationsforschung (Hrsg.), Biomedizin und Menschenwürde (verschiedene Beiträge, 2001); Zentrale Ethikkommission bei der [deutschen] Bundesärztekammer; Stellungnahme zur Stammzellforschung (2002) |
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Menschenwürde und Gewaltspiele: EuGH (Rechtssache C-36/02, Omega): Mitgliedstaaten dürfen Paintball wegen Unvereinbarkeit mit der Menschenwürde verbieten; dies verstößt nicht gegen die wirtsch. Grundfreiheiten. Verwaltungsgericht Dresden: Paintball verletzt nicht Menschenwürde (siehe dazu auch die Kritik von Urs Kramer). Geplantes EU-weites Verbot von Computer-Killerspielen |